•  
  • Humanismus
  •  
Humanismus


Den Meisten ist der Name Pergamon zunächst geläufig. Trägt doch das berühmteste Museum in Deutschland seinen Namen. Inhaltlich wird das dann schon schwieriger, thematisch herrscht sehr wahrscheinlich tabula rasa.

In der europäischen Bildungsgeschichte ist Pergamon der topos für die zweitgrößte Bibliothek der Antike nach Alexandria , den Hellenismus und seine Gymnasien.

Das Königreich Pergamon war im 3. und 2. vorchristlichen Jahrhundert ein Zentrum der hellenistischen Kultur. Kaum eine der griechischen Stätten, wie wir sie heute durch die Ausgrabungen der beiden letzten Jahrhunderte kennen, bietet uns das Bild der Klassischen Zeit. Was wir sehen, stammt aus der Zeit des Hellenismus bis hin zur römischen Kaiserzeit.

Fast überall stoßen wir auf Gymnasien. Alle diese Gebäude dokumentieren eine der folgereichsten Entwicklungen in der Geschichte Europas:

Die Öffentlichkeit des Schulwesens.

Im Stadtstaat ( polis ) der klassischen Zeit war Erziehung ( paidaia ) Privatangelegenheit. Sie lag in den Händen der antiken Großfamilien. Das musste sich jedoch ändern, weil sich diese polis seit dem 5. Jahrhundert immer mehr demokratisierte.

Die künftigen Bürger (politoi) mussten demzufolge so erzogen werden, dass sie in der Lage waren, in der Öffentlichkeit Mitverantwortung zu tragen. Damit wurde es zu einem öffentlichen Interesse der polis, sich um die Erziehung zu kümmern. Die größte Bedeutung für unsere Geschichte hat die Tatsache, dass Erziehung und Bildung bei aller Vielfalt ein einheitliches Gepräge aufweisen. Was die Griechen Paidaia nannten, also die unterrichtliche Erziehung und Bildung, stellt den Zusammenhang zwischen den Generationen her und verschafft einer Gesellschaft so ihre Identität.

Die inhaltliche Einheitlichkeit der hellenistischen Bildung beruhte auf einem lateinischen Ausdruck, der im ersten vorchristlichen Jahrhundert stilbildend wurde: „humanitas“.
Gemeinhin wird dies als „Menschlichkeit“ übersetzt, trifft jedoch nicht den Kern an Bedeutung, den dieser Begriff für das gesamte europäische Bildungs- und Erziehungswesen gehabt hat. Die Renaissance hat das Leitbild der hellenistischen „humanitas“ bewusst wieder aufgenommen. Dieser Begriff beschreibt den Versuch der antiken Griechen, den Menschen zu definieren:

Was ist der Mensch?

Auf diese Frage finden wir die Antworten bei zwei Philosophen, die unser heute noch gültiges Bildungssystem begründet haben: Platon und Isokrates .

Der Schüler des Sokrates entwirft in seinem Hauptwerk: „der Staat“ eine utopische Idealpolis als Gegenentwurf zum scheinbaren moralischen Verfall seiner Zeit.. Hier hat der Athener u.a. ein Erziehungsprogramm aufgestellt, das man mit Recht als erste wissenschaftliche Bildungstheorie bezeichnen darf.

Mit ihm hat der andere Athener konkurriert: Isokrates, Lehrer und Leiter der ersten höheren Schule unserer europäischen Geschichte.
In der alles entscheidenden Frage: „Was ist der Mensch?“ stimmten beide überein.
Die Antwort lautet:

Der Mensch ist dadurch definiert, dass er unter allen Lebewesen als Einziger den Logos besitzt.

Und Logos ist einer der wichtigsten Begriffe unserer wissenschaftlichen Tradition. Die Grundbedeutung ist „Sprache“ und „Denken“.

Beide betrachten die Sprache und demzufolge das Denkvermögen als Unterscheidungsmerkmal, das den Menschen vor allen anderen Lebewesen auszeichnet. Daher muß man in aller erster Linie die Sprachfähigkeit ausbilden, wenn man einen jungen Menschen vernünftig und erfolgreich erziehen will.

Diese Sprachfähigkeit macht den Menschen zum Menschen. Daher kommt die Erziehung den jungen Menschen zugute, sofern er Mensch ist. Das heißt: man erzieht nicht primär einen Athener, Römer, Deutschen etc. sondern die Erziehungsernergie richtet sich auf das Allgemeine, das alle Menschen als Menschen gemeinsam haben: eben den Logos, die Fähigkeit zu sprechen und daher auch zu denken.

Karl Jaspers hat es in diesem Sinne so beschrieben:

Bildung ist eine Lebensform. Sie ist die Kombination von Denken Können und Wissen.“

Um den Begriff Logos nicht mißzuverstehen, muß man wissen, was der antike Grieche darunter verstand. Logos wurde u.a. als das verstanden, womit wir Menschen uns gegenseitig Rechenschaft ablegen, d.h. unsere Handlungsweise erklären und eventuell rechtfertigen.
Tiere können einander keine Rechenschaft geben. Deshalb bezeichnen wir ihr Tun auch als Verhalten und nicht als Handeln.

Nur der Mensch als sprachbegabtes Wesen allein kann handeln. Rechenschaft geben heißt daher, sein Handeln begründen.

Den Logos in dem höheren Schulunterricht auszubilden heißt für Isokrates, den jungen Menschen zur konkreten politischen Urteilsfähigkeit zu erziehen und ihnen dafür das Rüstzeug an die Hand zu geben. Das ist für ihn die Rhetorik . Um beim Reden aber Erfolg zu haben, muß der Redner auch als Mensch moralisch glaubwürdig sein. Deshalb ist oberstes Bildungsziel des Rhetorikunterrichts die wegen ihrer Rechtschaffenheit anerkannte Persönlichkeit. Daher ist für Isokrates der Rhetorikunterricht der geeignete Weg, den Logos auszubilden.

Platon interpretiert den Begriff Logos völlig anders. Der Antidemokrat misstraut dem „common sense“. Wer versucht, bei den anderen nur gut anzukommen, redet leicht nach dem Munde. Deshalb steht Platon auch der Rhetorik sehr skeptisch gegenüber.

Wer Rechenschaft geben will, die standhält, muß für sein Handeln Gründe ins Feld führen, auf die er bauen kann, auch wenn jeder in der polis gegen ihn ist. Muster dafür war sein Lehrer Sokrates.


Wir neigen dazu, uns damit zu rechtfertigen, dass andere auch so sind. Deshalb muß die Erziehung den jungen Menschen davon abbringen, sich an den unvollkommenen moralischen Durchschnitten zu orientieren, sondern die Aufmerksamkeit auf die vollkommenen Normen zu lenken. Dies bietet die Mathematik . Deren Lehrsätze gelten absolut und zuverläßlich. Deshalb macht Platon den Mathematikunterricht zur Grundlage seiner philosophisch ausgerichteten Erziehung.

Für die antiken Griechen hat es selten etwas intellektuell Aufregenderes gegeben als die Entdeckung des mathematischen Charakters der musikalischen Intervalle. Schönheit und Harmonie beruht demzufolge auf mathematischer Ordnung. Das ist der Hintergrund, das noch heutzutage im Wissenschaftskanon die Mathematik mit der Musik zu den Geisteswissenschaften und nicht zu den Naturwissenschaften gerechnet wird.

Cicero zog aus der Definition des Menschen als des einzig sprachfähigen Lebewesens die Konsequenz, mit der er die Tradition des Humanismus wiederbelebte: In welcher Sprache gewinnt der Logosbesitz am vorzüglichsten Gestalt? Natürlich in der Sprache der Erfinder! Also wurde griechisch die Sprache der Gebildeten Römer. In der Renaissance kam Latein als lingua franca der Wissenschaft hinzu.

Für Cicero sollen alle im Unterricht vermittelten Fähigkeiten, alle diese „artes“ dazu dienen, aus dem jungen Menschen einen guten Bürger zu machen. Bürger sind in der Antike aber nur die freien Leute. Deshalb werden die „artes“ auch als „liberales“ bezeichnet.
Dies wiederum ist die lateinische Übersetzung aus dem Griechischen: “en kylon paidein“
Wir kennen es als „Enzyklopädie“. „paidaia“ heißt Erziehung und „kyklos“ meint den Kreis der freien Bürger. Später wurde die Bedeutung des Begriffes dahingehend erweitert, dass er alles Wißbare umfassen sollte.

In der eigentlichen Bedeutung sollte es das umfassen, was als Allgemeinbildung für den künftigen Bürger eine Lebensbedeutung hatte.

Das waren und sind die „sieben freien Künste-artes septem liberales.“
Hier die sprachlich-literarische Dreiergruppe das „trivium“ und dort die mathematisch-wissenschaftliche Vierergruppe “quadrivium“. Dies hat das europäische Bildungswesen in den höheren Schulen und den Universitäten im Mittelalter bis in die klassische Fakultätengliederung der Universität bis heute geprägt.

Dieser humanistische Bildungsansatz hat über 2400 Jahre, durchaus auch mit Unterbrechungen, gehalten. Erst in den letzten Jahrzehnten hat dieses Ideal an allgemeiner Geltung verloren. Der Antrag für die Aufnahme in die Liste bedrohter Arten ist gestellt.

Im 19 Jahrhundert und seinem neuhumanistischen Bildungsideal war die mythische Landschaft Griechenlands, „Arkadien“, noch die Metapher für die klassische Antike als Vorbild für die vollkommene Persönlichkeitsbildung.

Arkadien sollte nach Preußen geholt werden. Berlin titulierte sich deshalb auch als das “Spreeathen”, sprich das intellektuelle Zentrum Preußens als führender Bildungsnation in Europa.

Preußen als Staats-oder Verfassungsgebilde gibt es nun nicht mehr. Das mag man bedauern. Einen König auch nicht mehr. Das muss man nicht bedauern.

Nach weiteren Humboldts sucht man heute vergebens. Das muss man zuhöchst bedauern.

Das von mir geöffnete geistige Fenster sollte den Blick auf das intellektuelle Klima eröffnen in einer Stadt, die damals wie heute wieder als eine Weltstadt der Kultur und der Wissenschaft gilt. Politisch eher gelegentlich als Klein-Posemuckel. Egal welcher Couleur.

Die Museumsinsel und die alma mater berolinensis, die Humboldt-Universität, sind bis heute in ihrem Bildungsansatz weltweit Vorbild für alle Museen und Universitäten der Neuzeit nach ihrer Gründung 1810.

Diese preußische Bildungs-und Wissenschaftspolitik des 19. Jahrhunderts war lange stilbildend weit über seine Grenzen hinaus.

Insbesondere mit den Brüdern Humboldt und dem Preußen ihrer Zeit verbindet sich der zentrale Begriff:

Bildung

im Gegensatz zur Ausbildung.

Immanuel Kant hatte dazu schon früh das Signal gegeben:

“Das Leben ist kein Dämmerzustand. Worauf es beim Studium der Welt ankommt, ist die Leidenschaft nach Erkenntnis.”

Über Bildung wird hier nun schon seit über vierzig Jahren und wieder nach dem sog. Pisaschock allenthalben nur - schwadroniert.

Insbesondere dort, wo dumpfe Ignoranz der Treibstoff für die Schlachten um die Lufthoheit über den Stammtischen ist.

Für die “Reformer” gibt es endlich mehr Effizienz bei der Nutzung der Ressource Bildung. Von allen Seiten werden Lehrer, Schüler und Eltern mit sich permanent änderndem Reformgetöse zugeschüttet, der populistische und föderalistische Orkus qualmt nach Kräften.

Bildung jedoch bleibt zusammen mit den anvertrauten jungen Menschen auf der Strecke.

Da möchte man den Experimentierpädagogen zurufen: haltet mal die Luft an!

Stößt man in alle diese bunten politischen Ballons, welcher Couleur auch immer, mit der Nadel der Vernunft hinein, bleibt nur eins übrig:
ein runzeliger Haufen schlechter Grammatik.

Denn in Wirklichkeit steht Bildung davor, in die Liste der bedrohten Arten aufgenommen zu werden. Das Handelsblatt vom 16.5.2014 spricht auf der Titelseite von der „Generation Halbwissen – Das Ende der Allgemeinbildung.“

Immer mehr Gymnasiasten bringen seit Jahren weder die häuslichen Voraussetzungen noch das intellektuelle Handwerkszeug für die Propädeutik mit, die eigentliches Ziel gymnasialer Bildung ist.

Solides Bildungswissen wurde ausgetauscht gegen beliebige Inhalte möglichst anstrengungsloser und unterhaltsamer Projekte, sogenanntem Edutainment.

Der amerikanische Schriftsteller Neil Postman schrieb schon vor über 30 Jahren sehr hellsichtig:“Wir amüsieren uns zu Tode“.

Lektüren dürften aus Sicht so mancher Schüler den Umfang einer Seite bitte nicht übersteigen und sollten dazu mit allerlei Bildchen besser verdaulich gemacht werden. Rechtschreiberegeln sind Diskriminierung, die kids sollen so schreiben, wie sie sprechen etc…
Grotesker geht es nimmer.

Die Aufmerksamkeitsdauer für komplexere Sachverhalte orientiert sich eher am Gebrauch von Fernbedienungen.

Der ungehemmte TV-und PC-Konsum produziert immer mehr soziale Autisten.
Facebook for President! Lautet der Schlachtruf der Hirnamputierten.

Bildung hat jedoch etwas mit intellektueller Anstrengung, besser noch: mit Leistung zu tun, mit Rezeption anstelle von Konsum. „per aspera ad astra“ mahnte schon Seneca d.Ä.
Etwas platter heißt es: Kein Preis ohne Fleiß.
Die Fadenscheinigkeit der aktuellen Diskussion über die Zukunft der Bildung und insbesondere der Gymnasien packt dann letztendlich den ohnehin verpönten Elitebegriff auch noch in ideologische Watte:

Eliten oder gar Leistungsanforderungen (horribile dictu!)führen ja bekanntermaßen direkt in den Faschismus.

Alle sollen doch zur gleichen Zeit durchs Ziel kommen. Chancengleichheit nennen die das dann.
Denn wo alle dabei sind, wird doch niemand mehr diskriminiert! Weg mit den Noten! Runter mit den Anforderungen !Limborock als
pädagogisches Konzept. Selbst Grundrechenarten werden immer weniger beherrscht, die grammatiklosen Satzbautenversuche gehen an jeglicher Verständigung schadlos vorbei. Aber dafür kann man dann mühelos mit 14 Jahren seinen Vornamen tanzen.

Was machen die eigentlich mit unseren Kindern?!

Bildungsziele wie geistige Reife, Persönlichkeit, Charakter und Urteilsvermögen spielen kaum eine Rolle mehr und sind wohl überflüssig geworden. Sie werden als elitär eingestuft und sind daher allein per definitionem Teufelszeug.

Bildung wird nicht mehr verstanden als lebensbegleitender Prozess, bei dem der Mensch seine soziale, geistige und kulturelle Kompetenz ständig erweitert.

Heutzutage sind soft skills gefragt.
Das sind sicherlich notwendige Techniken für die heutige Berufswelt, jedoch kein Bildungsersatz.

Diese Degeneration von Bildung soll ihre Besitzer für den Einsatz in der modernen Marktgesellschaft zurichten. Daher wird der Bildungsbegriff immer weiter reduziert auf ökonomische Verwertbarkeit- also Nützlichkeit, Wettbewerb, Konkurrenz, Wohlstand etc….Fachidioten anstelle von Persönlichkeiten.

Mit Bildung als “Lebensform, als Kombination von Denken können und wissen” (Karl Jaspers) hat das nichts mehr zu tun.

Ich nehme die Begriffe wie geistige Reife Persönlichkeits-und Charakterbildung, Urteils-und Kritikvermögen, Verantwortungsbewusstsein, aktive Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben noch einmal auf.

Diese Bildungsziele, geprägt von der Gedankenwelt des Humanismus, der Aufklärung bei Kant, Montesquieu und Rousseau und des Humboldt´schen Bildungsbegriffes, sind doch Forderungen, die das Bildungsbürgertum und seit jeher die akademischen Corps sich als ihre geistige Grundlage auf die Fahnen geschrieben haben. Deshalb auch in unserem Corpswappen der Vitruvmensch im Goldenen Schnitt da Vincis als bildhafte Metapher für den Logos.

Diese Ziele waren auch durch die Einführung des „studium generale“ als Pflichtveranstaltung die Voraussetzung dafür, dass z.B. der TH Charlottenburg nach dem II. Kriege die Lizenz überhaupt wieder von den Briten erteilt wurde.

Das Studium generale gibt es in dieser verpflichtenden Form nicht mehr, nur noch als freiwillige Angebote einiger Universitäten für Interessierte, oder als Privatinitiativen von Personen, die ihren pädagogischen eros nicht ablegen können. Wie z.b. der Autor dieser Zeilen.

Bei der ganzen Bildungsdiskussion sollte uns die Besinnung auf die heute vorgestellten geistigen Wurzeln auszeichnen, nicht das lemurenhafte Befolgen von sinnentleertem Nützlichkeitsdenken, bei dem dann intellektuelle Titanen wie Dieter Bohlen letztendlich nur noch als plappernde Biomasse die Bestsellerlisten anführen oder in sinnentleerten TV-Shows die eigene Bedeutungslosigkeit zelebrieren..

Erhalten und pflegen wir also dieses Erbe der Humboldts, Kants, Platons, Aristoteles, Ciceros, Senecas, Averroes, Avicenna, Maimonides, Ibn Khaldoun, al Biruni u.A. im Sinne von George Bernhard Shaw:

“ Tradition ist eine Laterne. Der Dumme hält sich an ihr fest, dem Klugen leuchtet sie den Weg”



©cg